Evolution und Gesellschaft

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(Das Märchen vom "Überleben des Stärkeren")
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Gerne wird von schlichten Gemütern die Idee des ökonomischen und [[Wer überlebt?|gesellschaftlichen Wettbewerbs]] menschlicher Gesellschaften mit Verweis auf die Evolutionstheorie als "naturgegeben" dargestellt. Danach überlebt, wer intellektuell, finanziell, sozial oder einfach körperlich stärker ist. Illustriert wird dies mit Bildern von Löwen, die Antilopen jagen um sie aufzufressen.  
Gerne wird von schlichten Gemütern die Idee des ökonomischen und [[Wer überlebt?|gesellschaftlichen Wettbewerbs]] menschlicher Gesellschaften mit Verweis auf die Evolutionstheorie als "naturgegeben" dargestellt. Danach überlebt, wer intellektuell, finanziell, sozial oder einfach körperlich stärker ist. Illustriert wird dies mit Bildern von Löwen, die Antilopen jagen um sie aufzufressen.  
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  "Jeden Morgen wacht in Afrika eine Antilope auf und weiß, sie muss schneller  
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  "Jeden Morgen wacht in Afrika eine  
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  laufen als jeder Löwe, um zu überleben. Jeden Morgen wacht in Afrika ein
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Antilope auf und weiß, sie muss schneller  
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  Löwe auf und weiß, er muss schneller laufen als die langsamste Antilope"
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  laufen als jeder Löwe, um zu überleben.  
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  ''Manager der Firma Siemens in einem Workshop, der den Studenten der''  
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Jeden Morgen wacht in Afrika ein
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  ''EBS European Business School in Oestrich-Winkel die Geheimnisse der''  
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  ''[[Bullshitphrasen|Leadership Culture]] nahe bringen  soll - aus dem Buch [[Gestatten: Elite]]''
  ''[[Bullshitphrasen|Leadership Culture]] nahe bringen  soll - aus dem Buch [[Gestatten: Elite]]''

Version vom 18:07, 31. Jan. 2021


Inhaltsverzeichnis

Anlass

Wir leben in einer Zeit, in der die Idee einer gesellschaftlichen Elite immer selbstverständlicher wird: Eliteuniversitäten, Exzellentsinitiativen, Eliteförderung. Wer heute eine Idee gesellschaftlich voranbringen will, muss unbedingt "Experten" vorweisen können, die die Idee vertreten und begründen - ein einträgliches Betätigungsfeld für Wissenschaftler, Berater und andere Auguren (Wikipedia).

Es scheint allgemeiner Konsens, dass die modernen Industriegesellschaften nur noch von einer entsprechend intellektuell ausgerüsteten Elite geführt werden können. Diese müssen natürlich in speziellen Ausleseprozessen ausgewählt werden. Gleichzeitig zeigt uns die moderne Hirnforschung, welchen Anteil die physische Struktur unseres Gehirns am Denken und Fühlen, an unserem Charakter und an unseren Wünschen hat. Und diese Hirnstruktur - das sagen uns die Genetiker - ist eng mit unseren Genen verknüpft. Da ist der Weg zu einem neuen Sozialdarwinismus fast vorbestimmt.

Zumindest käme den Eliten in den Industrieländern eine wissenschaftliche Begründung ihrer gesellschaftlichen Spitzenpositionen und der undemokratischen Ausleseprozesse sehr gelegen - würde sie doch die in diesen Ländern erodierte Begründung von Hierarchien durch Tradition oder Religion ersetzen. Intensive Versuche in diese Richtung wurden in Deutschland zwischen 1933 und 1945 bereits durchgeführt und haben entsprechende Konzepte zunächst diskreditiert. Doch das heißt nicht, dass diese Ideen als erledigt betrachtet wurden. Sie leben noch und scheinen sich in Zeiten zunehmender Verteilungskämpfe auf diesem Planeten wieder zu vermehren. Die Denkbarrieren der politischen Korrektheit wurden in den letzten Jahren eingerissen. Die Ideen von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit geraten im Zuge der westlichen Wettbewerbsideologie zunehmend unter Druck - und damit wird der Weg wieder frei für "neue" alte Ideen (siehe auch "Gutmensch" in Wikipedia). Nicht unbedeutend sind in diesem Zusammenhang auch die Versprechungen der Gentechniker, den Menschen schon bald "optimieren" zu können.

In diesem Artikel möchte ich auf einige Punkte hinweisen, die die These von der "natürlichen", durch Leistung begründeten Grundlage der Eliten in unseren modernen Gesellschaften differenzieren und eine andere Interpretation der bekannten oder vermuteten biologischen, ökologischen und sozialen Zusammenhänge darstellen. Ich werde versuchen, die folgenden Thesen zu begründen:

  • Evolution beeinflusst nicht nur unsere Biologie, sondern auch unsere sozialen Strukturen und Prozesse - aber anders, als die Meinungsmacher propagieren.
  • Eliten sind lediglich ein Randphänomen. Ihre Bedeutung für die langfristige Entwicklung der Menschen wird überschätzt.
  • Die Idee Darwins vom "Survival of the fittest" wird in den Industrieländern bewusst falsch interpretiert.


Literatur und Quellen:

Einen hervorragenden Artikel über die vermeintliche Durchlässigkeit von gesellschaftlichen Klassen und Milieus findet sich im Webblog Perspektive:blau

(Artikel: Vom Tellerwäscher zum Millionär – ein Mythos? von Bernd Schmid,

Informationen zur Eliteforschung siehe z.B. http://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Hartmann_(Soziologe)

Wie Evolution gesellschaftliche Prozesse beeinflussen kann

Evolution wird allgemein nur im Zusammenhang mit der biologischen Ausgestaltung von Lebewesen gesehen. Für den Übergang von einer Art zur anderen, für Formen, Strukturen und Eigenschaften der Lebewesen, wird die Evolution als Ursache und treibende Kraft weitgehend anerkannt. Anders jedoch bei gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen: hier werden politische, soziologische, psychologische und wer weiss was sonst noch für Ursachen und Triebkräfte zur Erklärung herangezogen. Damit ist die Entwicklung des Menschen in den letzten 10.000 Jahren quasi eine "evolutionsfreie Zone".

Tatsächlich ist aber unsere Gesellschaft und Kultur direkt durch die Eigenschaften des Menschen bedingt. Die Art wie Menschen denken und fühlen entscheidet über die Möglichkeiten für gesellschaftliches und kulturelles Handeln. Unser Denken und Fühlen aber wird direkt durch unser Gehirn bestimmt. Wir wissen heute, dass das Gehirn des Menschen nicht nur durch Erziehung und Erfahrungen geformt und geprägt wird, sondern dass wesentliche Züge der Persönlichkeit angeboren sind. Nicht im Sinne eines vorgegebenen Verhaltensprogramms - vielmehr als grobes Muster in unserem Gehirn, als individuelle "Färbung". Die Fähigkeit, Angst zu empfinden, Glück, Liebe, Zorn - diese Fähigkeiten müssen uns nicht anerzogen werden. Wir besitzen sie von Geburt an.

Es spricht sogar einiges dafür, dass auch die Stärke und Art der Gefühle und die Schwelle für ihre Auslösung Ursachen in der angeborenen Struktur unseres Gehirns haben - ebenso, wie unsere Talente z.B. für Sprache, Musik oder Mathematik. Es gehört zum Selbstverständnis der meisten Menschen, so etwas wie eine Persönlichkeit bei sich und anderen voraus zu setzen: Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen, die diesen charakterisieren und die nur mit viel Disziplin und Selbstbeherrschung überwunden werden können. Auch bei Tieren spüren wir diese "Persönlichkeit", wie jeder Tierhalter bestätigen wird. Es gibt also einige Indizien - und die moderne Hirn- und Genforschung ergänzen sie um immer mehr Hinweise - die zu der Vermutung veranlassen, dass unsere Persönlichkeit zumindest in ihrer Grundfärbung genetisch bedingt und damit vererbbar ist.

Wenn dann unter definierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsstrukturen mehr oder weniger Nachkommen haben als der Durchschnitt, so müsste sich der Anteil dieser Persönlichkeitsstrukturen verändern und langfristig zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Grundlagen führen. Damit würden auch innerhalb der menschlichen Gesellschaft evolutionäre Prozesse wirken - wenn auch über Generationen und auf sehr subtile Art und Weise.

Warum gesellschaftliche Eliten nicht die Zukunft der Menschheit darstellen

Erfolg reich steril

An dieser Stelle setzen gerne sozialdarwinistische Ideen an, postulieren einen Kampf um's Überleben und leiten daraus das Recht des Stärkeren ab: Eliten sind deshalb Eliten, weil sie klüger, schöner und stärker sind.

Tatsächlich verfügen diese Eliten aber nur über mehr Macht und finanzielle Möglichkeiten. Dies erlaubt ihnen, sich nach außen mit den Attributen menschlicher Größe zu versehen: Stärke wird durch ein käufliches Automobil simuliert, Schönheit durch entsprechendes chirugisches Tuning und Intelligenz durch Bücher, die man sich von anderen schreiben lässt. Damit haben all die scheinbar überragenden Eigenschaften unserer Machteliten wenig mit "erblichen" Fähigkeiten zu tun und können auch nicht durch "Auslese" verbessert werden.

Auf der anderen Seite kann die große Masse der Menschen ihre Eigenschaften nur begrenzt mit Hilfe käuflicher Mittel "verbessern". Diese Menschen müssen unter den gegebenen ökologischen und gesellschaftlichen Bedingungen irgendwie überleben und ihre Familien durchbringen. Dabei sind besonders ihre intellektuellen und sozialen Fähigkeiten entscheidend. Diese Eigenschaften und Fähigkeiten - soweit genetisch bedingt - sind damit einer natürlichen Auslese ausgesetzt und führen zu langsamen Veränderungen der menschlichen Natur. Wohin der Einfluss unserer Lebensbedingungen auf unsere vererbbaren Persönlichkeitseigenschaften aber führt, lässt sich nicht in simplen Kausalitäten beschreiben. Die komplexen Zusammenhänge machen es unmöglich Entwicklungen vorherzusagen, zumal sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen und menschliche Eigenschaften gegenseitig beeinflussen. Vielleicht wird man nach vielen tausend Generation den Weg der Menschheit rückwirkend nachvollziehen können - ihn vorauszuplanen ist unmöglich.

Sicher ist aber, dass die menschliche Zukunft nicht von hochintelligenten Nerds oder High-Performance-Managern mit langbeinigen "Next Topmodels" als Gattinen geprägt wird, sondern durch die unzähligen mittelmäßigen Menschen auf diesem Planeten und ihren Nachkommen. Sie bilden den größten Anteil, den Gen-Pool der Menschheit. Ihre Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten mit Geld und Macht "aufzumotzen" sind begrenzt und sie müssen mit ihren angeborenen Möglichkeiten versuchen zu überleben. Es ist tröstlich, dass trotz aller Versuche der Machteliten zu allen Zeiten jeder große Plan gescheitert ist, Menschen und Gesellschaften nach eigenem Gutdünken zu Formen: die Guten in's Töpfchen, die Schlechten in's Kröpfchen! Auch die moderne Gentechnik wird daran nichts ändern. Am Ende nahmen die Dinge doch immer einen ganz anderen Lauf, als die Heroen der "neuen" Zeitalter und der "neuen" Menschen es geplant hatten. Ob römisches oder 1000-jähriges Reich: was blieb, war Mittelmaß - das aber in Hülle und Fülle.

Das Märchen vom "Überleben des Stärkeren"

Nicht stark genug...

Gerne wird von schlichten Gemütern die Idee des ökonomischen und gesellschaftlichen Wettbewerbs menschlicher Gesellschaften mit Verweis auf die Evolutionstheorie als "naturgegeben" dargestellt. Danach überlebt, wer intellektuell, finanziell, sozial oder einfach körperlich stärker ist. Illustriert wird dies mit Bildern von Löwen, die Antilopen jagen um sie aufzufressen.

"Jeden Morgen wacht in Afrika eine 
Antilope auf und weiß, sie muss schneller 
laufen als jeder Löwe, um zu überleben. 
Jeden Morgen wacht in Afrika ein
Löwe auf und weiß, er muss schneller laufen 
als die langsamste Antilope"
Manager der Firma Siemens in einem 
Workshop, der den Studenten der 
EBS European Business School in Oestrich-Winkel 
die Geheimnisse der 
Leadership Culture nahe bringen  soll - aus dem Buch Gestatten: Elite

Tatsächlich hat der Wettbewerb in menschlichen Gesellschaften nur sehr indirekt mit der "Evolution" zu tun. Er gehört zu den sozialen Rahmenbedingungen, unter denen sich Menschen behaupten müssen. Tatsächlich geht es bei jedem evolutionären Prozess aber nicht um's Überleben, sondern um die Fortpflanzung. Weder gesellschaftlicher Status, noch Lebenserwartung spielen bei der "genetischen" Entwicklung von Lebewesen eine Rolle. Einzig bedeutend ist die Zahl der Nachkommen. Solange ein Lebewesen Nachkommen hat, bleiben seine genetischen Fähigkeiten erhalten (zumindest teilweise) und es ist aus Sicht der Evolution erfolgreich. Ein Löwe, der viele Gazellen tötet, aber keine Nachkommen hat, ist danach ein Verlierer - wie stark er auch immer sein mag.

In menschlichen Gesellschaften gibt es eine Vielzahl von möglichen Strategien, um in diesem Sinne erfolgreich zu sein. Menschen können sich bei anderen einschmeicheln. Sie können durch ihre Persönlichkeit überzeugen oder durch Brutalität. Der Erfolg des Einzelnen wirkt dabei immer auch auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zurück und verändert damit die Erfolgsaussichten jeder Strategie in der Zukunft. Dies hat zu einer sehr großen Vielfalt an menschlichen Charakterzügen geführt: Egoismus oder Selbstlosigkeit, Ehrgeiz oder Fatalismus, Streitlust oder Versöhnlichkeit, Risikofreude oder Ängstlichkeit, Verantwortungsgefühl oder Rücksichtslosigkeit - menschliche Persönlichkeiten umfassen unzählige Varianten und Kombinationen. Und niemand ist heute in der Lage, vorauszusagen, welche Eigenschaften in Zukunft erfolgreich sein werden und welche nicht. Daher ist es auch absurd, wenn Gentechniker versprechen, den Menschen zu optimieren. Denn dazu müsste man festlegen können, was optimal ist.

Ein Film in ARTE zum Thema: https://www.arte.tv/de/videos/067800-000-A/der-mensch-von-morgen/

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