Kapitalismus und Technologie
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Was macht den Kapitalismus aus
In einer Diskussionsrunde im Deutschlandradio Kultur im Dezember 2022 hatte die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann Gelegenheit, zu den Thesen ihrer Bücher zum Thema "Kapitalismus" Stellung zu nehmen.
In diesem Zusammenhang stolperte ich als Zuhörer über eine Einschätzung, die meinen Widerspruchsgeist anregte: der Kapitalismus sei eine Erfindung der Neuzeit.
Ich habe mich in meinem Leben eher selten mit der Theorie des Kapitalismus auseinandergesetzt - musste aber mein Leben lang mit den von ihm gesetzten Rahmenbedingungen zurechtkommen. Insofern bin auch ich - wie alle Menschen - ein Experte des praktischen Kapitalismus.
Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, baut der Kapitalismus immer auf den folgenden beiden Voraussetzungen:
- es muss eine Idee des Eigentums, des "Meins" und "Deins" geben
- es muss eine Idee vom Wert der Dinge und der Handlungen geben
Diese Grundlagen ergeben noch kein kapitalistisches Wirtschaftssystem, sind aber zwingend notwendig. Und sie sind offensichtlich nicht kulturell, sondern biologisch bedingt. Kaum ein höheres Lebewesen, dass nicht die innere, angeborene Fähigkeit besitzt, zwischen "Mein" und "Dein" zu unterscheiden und das seine Mühen und Kräfte nicht abhängig vom Wert des erstrebten oder zu verteidigenden "Eigentums" dosiert. Neid, Gier, unbedingtes Besitzenwollen muss uns niemand beibringen. Wir besitzen diese Gefühlsoptionen einfach.
Ob es um verfügbare Nahrungsquellen, Reviere oder die Zugänglichkeit zu Sexualpartnern geht - die Natur hat den Lebewesen sehr differenzierte Fähigkeiten bereitgestellt, mit diesen Rahmenbedingungen umzugehen und flexible Strategien zur optimalen - wirtschaftlichen Beschaffung und Sicherung von Eigentum zu entwickeln.
Kleine Äffchen reagieren beleidigt, wenn sie statt einer süßen Traube einen trockenen Keks als Belohnung bekommen, während ihr Käfignachbar die leckere Traube erhält.
Schimpansen erobern in regelrechten Kriegszügen fremde Reviere mit besseren Nahrungsquellen oder mehr Weibchen.
Daher vertrete ich die These, dass der "Kapitalismus" in uns Menschen angelegt ist. Wir können nicht anders, als im Rahmen der vorgegebenen instinktiven Bewertungsmaßstäbe zu handeln.
Kapitalismus und Kultur
Das heißt natürlich nicht, dass Kapitalismus, wie wir ihn kennen, ausschließlich auf biologischen Grundlagen beruht.
In der Natur gibt es für die Aneignung von Eigentum im Allgemeinen nur 2 Strategien. Entweder man sucht was man braucht oder man nimmt es anderen weg. Allerdings ist bereits die Entscheidung "Suchen oder Wegnehmen" eine ökonomische Entscheidung: was braucht weniger Ressourcen, womit erhalte ich den größeren Nutzen?
Für einen Bienenstock mit energiereichem Honig wird ein Bär mehr Aufwand in Kauf nehmen als für ein paar süße Beeren.
In sozialen Gemeinschaften, z.B. bei Schimpansen, haben sich dagegen bereits komplexere Handlungsoptionen entwickelt. Hier kommt die Strategie des "Teilens" ins Spiel. Individuen geben Teile ihres erworbenen "Eigentums" freiwillig an andere ab. Natürlich steht dahinter immer auch eine eigennützige Strategie, die sich in den Verhaltensoptionen eines Lebewesens manifestiert. Wenn ich anderen in meiner Gruppe helfe, sorge ich für die Stabilität und das Überleben der Gruppe, von der mein eigenes Leben abhängt.
Was jedoch allen Tieren auf diesem Planeten verwehrt ist, ist das grenzenlose Anhäufen von Eigentum. Ein Eichhörnchen oder mancher Vogel mag Nahrung sammeln und verstecken - aber die Möglichkeiten des Individuums zur Verteidigung seines Eigentums hängen nur von seinen physischen Fähigkeiten ab. Ein Löwe mag noch so stark sein - die Anhäufung und Verteidigung von hunderten erlegten Antilopen wird ihm nichts nutzen.
Bei sozialen Lebewesen kann das gemeinsame Handeln zusätzliche Stärke bedingen - aber auch diese ist begrenzt. Erst der Mensch konnte durch die Nutzung von technologischen Artefakten die Voraussetzungen für die Anhäufung von Eigentum und dessen Schutz schaffen. Mauern zum Schutz vor gefrässigen Tieren, Waffen gegen Diebe. Soziale Gemeinschaften mit eigenen Regeln zum Schutz vor anderen Gruppen.
Und der Mensch entwickelte - wahrscheinlich lange vor seiner Sesshaftwerdung - die Idee des Tauschens. Eigentlich ist das Tauschen eine Erweiterung des Teilens. Man teilt nicht bedarfsabhängig sondern parallel. Jeder gibt gleichzeitig dem anderen Etwas, was dieser haben möchte.
Mit dieser Fähigkeit war dann die Grundlage des "Handelns" gelegt. Vermutlich gab es sie schon in den Zeiten des Jagens und Sammelns und wurde über 10tausende Jahre immer weiter verfeinert. Gruppen aus unterschiedlichen Regionen tauschten erlegtes Wild, Früchte oder schöne Dinge.
Der heutige Kapitalismus mag ein hoch komplex gestaltetes, kulturelles Werk sein. Er beruht aber immer - das ist meine These - auf den folgenden 3 Zutaten:
- Eigentum
- Wert
- Tauschen, Teilen, Stehlen
Alle 3 Zutaten sind in einfacher Form tief in unserer Biologie verankert und nur deshalb sind sie überhaupt einer kulturellen Formung zugänglich. Wir können die Gestalt des Kapitalismus ändern, die Regeln nach denen wir Eigentum zuweisen, schützen oder aneignen dürfen. Aber wir werden das innere "Habenwollen", das ökonomische Abwägen von Handlungsoptionen und die Bereitschaft oder Verweigerung des Teilens nicht unterdrücken können, ohne den Mensch als Menschen zu leugnen.
Quellen
- Ulrike Herrmann, Das Ende des Kapitalismus, Kiepenheuer & Witsch, 2022
- Ulrike Herrmann, Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung, PIPER, 2018