Meister und Schüler
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Der Mensch - Krone der Schöpfung - hat sich über Natur und Leben erhoben und erschafft seine eigene Welt! Das ist der Mythos hinter der Idee des technischen und zivilisatorischen Fortschritts und die Quelle der Hypris der Menschen gegenüber der Natur.
Das letzte Produkt dieser Hybris ist der Glaube, ein neues "Wesen" erschaffen zu können, das die Intelligenz des Menschen weit übertreffen wird. Schon jetzt wird von vielen Vertretern dieser neuen "Religion" immer wieder auf die Unzulänglichkeit des Biologischen gegenüber unseren technologischen Prozessen und Artefakten hingewiesen. Krankheiten werden als Zumutungen und mangelhaftes Design unserer Körper betrachtet, die mit allen Mitteln zu verhindern sind. Das Sterben soll aufgehalten und die Natur soll verbessert werden. Der Mensch wird als uneinsichtiges Wesen beschrieben, der nicht einmal einfachste Statistiken versteht.
Doch hinter diesen Ideen steht der Größenwahn des Schülers gegenüber seinem Meister. Wir haben durch Beobachtung und Dialog mit der Natur viele Phänomene entdeckt und verstehen gelernt. Physikalische Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Vorlagen aus der Ntur haben uns zu neuen, eigenen Entwicklungen inspiriert und viele davon waren sehr erfolgreich. Wir haben den Vogelflug studiert und daraus die aerodynamischen Bedingungen für einen künstlichen Flügel abgleitet. Wir haben die Vorgänge in Gehirnen erforscht und daraus das mathematische Modell neuronaler Netze abgeleitet. Die Bionik zeigt uns immer wieder von Neuem die wunderbaren "technischen" Lösungen, die die Natur für reale Probleme des Lebens gefunden hat und dabei kratzen wir gerade an der Oberfläche dieses Katalogs der Möglichkeiten.
Trotzdem glauben wir, uns mit diesem spärlichen Wissen, über unseren Lehrmeister, die Natur, erheben zu können. Wir behaupten, dass die natürlichen Lösungen unvollkommen seien und der Verbesserung durch uns bedürfen. Dabei übersehen wir, dass die Antworten der Natur auf die Anforderungen der physikalischen Wirklichkeit auf Milliarden Jahre andauernden Erfahrungen und evolutionären Lernschleifen beruhen. Es ist anmaßend zu glauben, wir könnten mit unserer gerade mal 10.000 Jahre alten zivilisatorischen Erfahrung und dem rudimänteren Wissen über die Welt, beurteilen, ob eine in Millionen Jahren ausgebildete Lösung unzureichend ist? Möglicherweise ist unsere Sterblichkeit eine zwingende Bedingung für unseren zivilisatorischen Fortschritt? Vielleicht ist unsere statistische Schwäche eine unüberwindbare Eigenschaft eines Individuums mit begrenzten physischen Möglichkeiten?
In der Natur haben sich physische und kognitive Fähigkeiten - wenn wir denn die Evolutionstheorie akzeptieren - parallel entwickelt. Es gab nie einen fertigen Körper, in den ein fertiger Geist eingefügt wurde sondern der Geist hat sich zusammen mit dem Körper entwickelt. Warum sollte das bei der Bildung von sozialen Gesellschaften anders sein? Mit zunehmender Strukturierung von sozialen Gemeinschaften und Erweiterung der physischen Möglichkeiten durch Werkzeuge und Techniken verändern sich Regeln und Normen dieser Gemeinschaften. Doch heute haben wir die physischen Möglichkeiten durch den technischen Fortschritt in kürzester Zeit ins Unermessliche erweitert. Mit der Anpassung der Normen und Regeln an diese neuen Möglichkeiten kommen wir nicht mehr hinterher. Manche versuchen, diese Normen nachträglich zu konstruieren und zu implantieren - etwa durch Revolutionen, Despotismus oder die Führung durch Eliten. Aber das scheint mir ein übler Holzweg zu sein. Es ist wie die nachträgliche Implantation von Geist in einen vorhandenen Körper.
Der Schüler wird dem Meister noch lange nicht beikommen!
